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Eine Geschichte in Wien

„Kindern und Greisen sollte man noch viel mehr erlauben.“ Ein kluger Satz, gesprochen von Sigmund Freud, der als fiktive und doch ganz real wirkende Gestalt in einem Buch auftaucht, dass mir zunächst in meiner Familie und dann im Freundinnen- und Lesekreis begegnete. Und aus dem Lesekreis nahm ich es leihweise mit. Ich war gespannt auf Wien in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, auf die Geschichte der Hauptfigur Franz Huchel, der vom Land in die große Stadt zieht und die Verbindung zu seiner Mutter per Postkarte und Brief hält, und natürlich auf die Rolle des Begründers der Psychoanalyse. Das schön gestaltete Buch Der Trafikant von Robert Seethaler ist eine wunderbare Studie darüber, wie verwirrend es sein kann zu entscheiden, was für unser Leben wichtig ist. Und wie sehr uns Begegnungen mit Menschen auf diesem Weg beeinflussen. Wir berühren einander – in Worten, in Gesten und in Umarmungen. Und selbst unsere ganz individuellen Träume können für andere eine Bedeutung haben. Franz Huchel findet seinen eigenen Weg, seine Träume zu bewahren. Wie, das empfehle ich unbedingt nachzulesen.

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Umwege

Ich hatte dieses Buch schon lange im Auge. Und wusste nicht, in welcher Sprache ich es lesen wollte. Die Entscheidung fiel für die englische Übersetzung und ich ließ mir das Buch aus London mitbringe. Erst beim Aufschlagen sah ich, dass es sich um eine Übersetzung von Anthea Bell handelte (die gerade von der Deutschen Botschaft in London für Ihr Übersetzungswerk ausgezeichnet wurde) und war beglückt darüber. Schon der Titel ist eine Schönheit und hat die Übersetzung wunderbar überstanden, denn ich sehe bei In Times of Fading Light das abnehmende Licht durchschimmern – und ein Schimmer ist schön bei einer Übersetzung.
Den Umweg über die englische Sprache nehme ich selten bei deutschsprachiger Literatur. Aber hier war es eine bewusste Entscheidung, denn ich wollte dieses Buch nach der Lektüre an mir nahestehende englischsprachige Menschen verleihen und mit ihnen über diese deutsche Familiengeschichte sprechen, die von Zeit zu Zeit und von einem Ort zum anderen springt, so dass ich manchmal beim Lesen aufpassen musste, dass sie mich noch mitnahm, diese Geschichte.
Das Nichtdazugehören und doch Teil von etwas sein Wollen ist ein großes Thema von Alexander, einem der jüngeren Protagonisten der Geschichte. Er trägt die Verlorenheit seiner Eltern mit sich herum und reist damit nach Mexiko – seine Krankheit scheint ihn zu dieser Art Flucht zu bewegen. Die Flucht ist gleichzeitig eine Spurensuche, ein Versuch, die Großmutter besser zu verstehen, die nie im Deutschland der Nachkriegsjahre angekommen zu sein scheint und Mexiko im Herzen trägt. Auch ihre Schwiegertochter (und Alexanders Mutter) Irina kommt nicht an – und beide Frauen versuchen, sich auf unterschiedliche Weise Orte zu schaffen, die sich nach einem Zuhause anfühlen. Irina reißt dazu Wände ein und Charlotte wählt einen Wintergarten als Zufluchtsort. Dort gedeihen Pflanzen, die eigentlich ein warmes Klima benötigen – was sicherlich auch auf Charlotte zutrifft. Zuletzt muss sie dann mit ansehen, wie ihr zerstörerischer Mann ihr auch diesen Ort zunichte macht.
Am Ende des Romans wünschte ich mir ein bisschen weniger Verlorenheit. Aber diesen Gefallen taten mir Eugen Ruge und mit ihm seine Übersetzerin Anthea Bell nicht. Und ich denke mit etwas Abstand, dass ein Abschied vom Rauschen des Pazifiks zu diesem Buch genau passt. Es ist ein Gesprächsanlass über die deutsch-deutsche Vergangenheit, über Familiengeschichten, die in der (jetzt ehemaligen) DDR geschrieben wurden – und ein Anlass für mich, an meine Zeit an der University of Reading zu denken, als ich mich dort 1986/1987 mit der ‚Literature of the GDR‘ beschäftigte.

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Eine Übersetzung wie Musik

Das ist ‚Geh nicht einsam in die Nacht‘ – aus dem Finnlandschwedischen von Paul Berf übersetzt und im Original von Kjell Westö geschrieben. Die Melodie der Geschichte begleitet mich, auch wenn ich das Buch schon längst ausgelesen habe. Eigentlich beschreibt es ein Zitat aus dem Buch am besten, was die Lektüre mit mir gemacht hat. Es steht auf S. 489 der gebundenen Ausgabe. Dort geht es darum, wie man berührt wird – von Liedern und von Menschen. Ich empfehle, zumindest diese Textstelle nachzulesen. Am besten aber gleich das ganze Buch. Die Geschichte von Jouni, Ariel und Adriana und allen, die mit ihnen in Berührung kamen, ist gleichzeitig Liebes- und Zeitgeschichte. Und erzählt ganz wunderbar, warum man in einer Sprache manchmal mehr zuhause ist als in einer anderen. Und warum man so häufig grandios aneinander vorbeiredet – oder auch vorbeischweigt.

Ein großer Roman.

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